Stellen wir
uns vor:
Es ist fünf
Minuten vor Unterrichtsbeginn an einem durchschnittlichen Schultag
eines Gymnasiums. Die Zimmertür steht offen, auf dem Gang herrscht
das übliche Treiben während einer Pause, die Lehrperson hingegen
sitzt bereits an ihrem Tisch im Schulzimmer und ordnet ihre
Unterlagen für die kommende Stunde, überprüft die Verbindung vom
Laptop auf den Beamer und ärgert sich, als sie sich kurz umdreht,
dass die Wandtafel schon wieder nicht gereinigt wurde. Also steht sie
auf und wischt die Tafel sauber; es klingelt. Mit dem Schwamm noch in
der Hand, schaut die Lehrperson – nennen wir sie M – den
gemächlich ins Zimmer strömenden Schülern zu. Es interessiert sie,
wie die Einzelnen hereinkommen, worüber sie sich unterhalten, wie
lange es geht, bis sich alle an ihre Plätze gesetzt haben. Dann legt
M den Schwamm in die an der Kreideleiste befestigte Schale, wendet
sich der Klasse zu und wartet. Es ist ein lächelndes, aufmunterndes
Warten. Es wird still, M und Klasse schauen sich an -
Ein
magischer Moment.
Pathetisch
gesagt, erinnert er an die Genesis. An den Moment, woraus alles
entsteht. Besser: Entstehen kann. Schlechter: Entstehen soll. Analog
zu Genesis 1,3 wird das, was von jetzt an abläuft, durch Sprache
ausgelöst: M – vermutlich wird die erste „öffentliche“
Äusserung von der Lehrperson kommen – sagt etwas: zu allen, zu
einer oder einem, aber M sagt etwas. Beinahe alle Schulstunden
beginnen mit einer Äusserung der Lehrperson; erst mit ihr beginnt
die Unterrichtszeit zu laufen. (Vermutlich deshalb versuchen die
Studierenden oft, diesen Moment hinauszuzögern mit allerhand Getue
und Geschwatze.) Dieser erste Satz hat es in sich, buchstäblich –
aus ihm heraus entwickeln sich alle weiteren Sätze. Wie bedacht wird
er wohl gesetzt?
Dieser
Augenblick ist auch ein Augenblick des Übergangs, des Übergangs von
einer Unordnung in eine Ordnung, von einer Ungerichtetheit in etwas
auf ein Ziel hin Gerichtetes, von einem alltäglichen Geschehen in
ein Unterrichtsgeschehen. Er ist zugleich der Augenblick der
Bündelung: verstreute individuelle Aufmerksamkeiten werden
eingesammelt und zu einer gesammelten Aufmerksamkeit zusammengelegt.
Ähnlich dem, was ein Laser mit den Lichtstrahlen macht. Ein
faszinierender Prozess!
Der
Unterricht beginnt.
In den
allermeisten Fällen wird die inzwischen gesammelte Aufmerksamkeit
aller Anwesenden von M sogleich auf etwas gelenkt, das von den
Personen und ihren Befindlichkeiten wegführt: auf ein Lektionsziel,
auf den Stundenablauf, auf einen Punkt in der Semesterplanung. Oder
es erfolgen Anordnungen bzw. organisatorische Hinweise zu dem, was in
der eben begonnenen Lektion der Fall sein soll. Ein solches Ablenken
leuchtet auf den ersten Blick sofort ein; wo käme man hin, würden
an diesem Übergang Fragen stehen wie: Wie geht es Ihnen, X? Sie
sehen besorgt aus, Y; ist etwas Ungutes passiert? Sie alle scheinen
aufgebracht zu sein; möchten Sie etwas loswerden? Oder gar: Sie
sehen fast schon glücklich aus, Frau/Herr M; freuen Sie sich auf
uns? Auf den zweiten Blick jedoch kann man sich fragen, wieso es fast
immer sehr schnell um etwas anderes geht, als um die Menschen im
Raum, wieso höchst selten zum Beispiel die Frage nach den momentanen
Bedürfnissen der in einem Unterrichtsraum um einen Lerngegenstand
Versammelten in Bezug auf diesen Gegenstand gestellt wird. Oder: Wie
oft haben Sie als Lehrerin, als Lehrer Ihre Studierenden zu Beginn
einer Lektion schon gefragt: Mit welchen Erwartungen sind Sie heute
ins Zimmer gekommen? Was haben Sie sich vorgenommen für die heutige
Lektion? Welch Frage haben Sie momentan?
Ja: Weshalb
kommt man in der Regel so schnell „zur Sache“? Weil man Angst
davor hat, jemanden – und sei es „nur“ als Träger*in einer
Rolle – blosszustellen? Weil man das Schul-Spiel mit seinen Regeln
nicht stören möchte? Weil solche Umwege Zeit brauchen, die man
nicht aufwenden will?
Wo findet
die viel beschworene Persönlichkeitsbildung statt?
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